Von Guatemala nach Hawaii

Nach dreieinhalb Monaten Guatemala gibt es wohl kaum einen größeren Kontrast als die Inseln von Hawaii, das perfekte „Vorzeigeparadies“ der Vereinigten Staaten. Herrscht in Mittelamerika Chaos und Anarchie, so findet man hier eine schon fast bedenkliche Ordnung: die Straßen sind „poliert“, die Wiesen englisch getrimmt und jede, aber wirklich jede Auffälligkeit und Abweichung wird sorgfältig beschildert. Der Straßenverkehr ist vorbildlich und man wird für das kleinste Verkehrssündchen gleich von den übrigen Verkehrsteilnehmern gerügt. Wir befinden uns in einem Staat, wo man „Neighborhood-Watching“ betreibt und vor den Bakterien im Meer gewarnt wird (siehe Fotos). Auch die Anreise nach Hawaii ist nicht so einfach und ich scheitere an den Tücken des automatisierten E-Checkin: auf Grund von Systemproblemen und mangelndem Personal am Flughafen in L. A. verpasse ich meinen Flieger, während Christian bereits eingecheckt ist und grad noch in die Maschine hüpfen kann. Ich bekomme glücklicherweise ein neues Ticket für den nächsten Flug und erreiche acht Stunden später das ersehnte Ziel, Kailua-Kona auf Big Island, ein Stätdchen wie Velden am (bissl wild gewordenen) Wörthersee, wo die Männer klassisch Hawaii-Hemden tragen und mit „Aloha“ gegrüßt wird, ein zum Teil virtuelles Feriendorf wie aus einer US-amerikanischen Soapopera. Hier fährt jeder sein neuestes Luxusauto - uns eingeschlossen - und man muss immer einen Pullover dabei haben, um die eisigen Temperaturen der klimatisierten Geschäfte und Restaurants zu ertragen, wo Bestellen ein eigenes Vokabular erfordert und jede Mahlzeit eine riesige Menge Müll erzeugt. Hawaiianische Tradition reduziert sich auf Accessoires wie Muschelketten und Blumenhemden, Ukulele-Musik und natürlich eine Ananas zu jedem Gericht. Nur die Namen der Orte und Straßen sind hawaiianisch geblieben, was bei uns zunächst einmal zu einigen Merkproblemen führt. Und es ist vermutlich diese enorme Umstellung, die uns ein wenig beschäftigt hat und uns eine Zeitlang davon abhält, unseren Webblog weiterzuführen.
Obwohl es unter diesen Umständen nicht so einfach ist, indigene Hawaiianer näher kennen zu lernen, kommen wir mit einigen ins Gespräch und erfahren mehr von den wahren Schattenseiten des 50. US-Bundesstaates. Nachdem man den Ureinwohnern Land und Besitz ohne oder mit geringen Entschädigungszahlungen genommen hat, werden sie nun systematisch kriminalisiert und aus der eigenen Heimat verdrängt, wo es weder Arbeit noch Schulplätze für ihre Kinder mehr gibt. So sind die Kamehameha-Schulen zwar als Ausbildungsstätten ausschließlich für Hawaiianer institutionalisiert worden, doch müssen seit einer Reihe von Gerichtsprozessen nun auch weiße Kinder aufgenommen werden, was zur Folge hat, dass Einheimische keinen Platz mehr bekommen. Viele Hawaiianer verlassen ihre paradiesische Heimat, weil sie sich schlicht und einfach nicht mehr leisten können. Menschen mit hawaiianischem Aussehen werden zudem mehrmals wöchentlich von der Polizei nach Drogen durchsucht und als Drogendealer diffamiert. Wie in allen vom weißen Mann eroberten Ländern gibt es eine unüberbrückbar scheinende Kluft zwischen der westlichen kapitalistisch orientierten Lebensweise und der Naturverbundenheit der indigenen Zivilisation. Sie hinterlässt ein Volk, das zwischen der alten Tradition und dem modernen Leben zerrieben wird und weder da noch dort zu Hause ist, was sich – wie überall - in Alkohol-, Drogen- und Essproblemen niederschlägt. Ihre Sprache ist dafür symptomatisch: "Pidgin" ist eine Art englischer Dialekt, den nur Hawaiianer sprechen und verstehen. Das alte Hawaiianisch hingegen spricht man nur mehr auf den kleinen Inseln Lanai, Molokai und der sich im Privatbesitz befindenden Insel Nihau. Anders als in Guatemala, wo die Maya einen großen Teil des Landes prägen, jedoch ebensowenig politische Rechte genießen, dominiert hier die US-amerikanische Lebensweise und man entdeckt unter den Weißen so gut wie kein Bewusstsein für die doch offensichtliche Problematik.
Trotz dieser schwierigen Lebenssituation stoßen wir selten auf Aggression oder gar Feindseligkeit, wie es etwa in Guatemala doch immer wieder zu spüren war. Hawaiianer sind in der Regel sympathisch, freundlich, in sich ruhend, lustig und extrem selbstbewusst. Das alte Wissen der Kahunas wird behütet und nur wenige Weiße erhalten direkten Zugang dazu.
Nachdem wir den ersten Kulturschock überwunden und die Vorzüge der Zivilisation wieder zu schätzen gelernt haben - was sich naturgemäß in den Preisen auswirkt, die unsere Lebenskosten auf das Dreifache hinaufschnalzen lassen - und das unwirkliche Kailua hinter uns gelassen haben, gelingt es uns jedoch bald die atemberaubende Schönheit der Insel zu erkennen, ihre tatsächlich unberührt scheinende Natur, die Anmut und die Macht unserer Erde. Hier steht man in direktem Kontakt mit den Elementen, dem gewaltigen pazifischen Ozean, dem Feuer der glühenden Lava, die sich vom Kilauea-Vulkan direkt ins Meer ergießt, den unendlichen schwarzen Lavafeldern, dem besonders an der Ostseite von Wind und Regen geprägten Wettergeschehen. Bizarre Lavafelsformationen, mächtige Bergketten, magische Täler, Buchten und Strände in allen Farben, märchenhafte Wasserfälle, üppiger Dschungel neben karger Hochlandvegetation. Die große Kraft und Weisheit der alten Polynesier ist einfach überall spürbar, in der Erde selbst gespeichert und Pele, die launische Vulkangöttin, ist immer präsent.
Wir beginnen zu verstehen, warum die Vulkaninseln als Tor zur Erde und in andere Dimensionen bezeichnet werden, als Spitzen einer versunkenen Welt, als Mittler zwischen Ost und West, zwischen Geist und Materie, und spüren nach und nach, was uns hierher gerufen hat. Besonders auf Big Island erkennen wir die höchste Wandlungskraft durch das immer wiederkehrende Auflösen von Materie, die in einem ständigen (glühenden Lava-) Fluss begriffen ist. Nicht von ungefähr werden die sieben Inseln als die sieben Chakren bezeichnet, wobei Big Island das Muladara, das feuerrote Wurzelchakra, darstellt. Und es sind diese gigantischen Naturschauplätze, die uns nicht nur sprachlos machen, sondern tatsächlich in enorme Prozesse der Wandlung und Veränderung katapultieren. In diesen kleinen Stückchen Erde liegt ein großer Teil ihrer Kraft. Es gibt viele alte Plätze, heilige Stätten, Tempel und Altäre, doch welcher Felsen, welcher Wasserfall, welcher Hügel, welches Tal ist hier nicht geladen mit Mana (Lebenskraft)? Sich in diesen Landschaften zu bewegen ist wie eine Meditation, ein Ritual, ein Gebet, eine Begegnung mit dem Ursprung allen Seins. Und so tauchen wir ein in diese magische Welt ...

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Neighborhood Watching (1x anklicken zum Lesen des Textes)

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Auntie in Tante's Restaurant

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Feuer und Wasser, Erde (Lava) und Luft (Dampf)




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